Die Depression aus evolutionstheoretischer Sicht

Es wird weitgehend auf Fachausdrücke verzichtet, um diesen Beitrag für Leser, die sich bisher mit dieser Materie nur wenig beschäftigt haben, verständlicher
zu gestalten.

Einleitung

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass ca. 15 % aller Männer und ca. 24 % aller Frauen im Verlauf ihres Lebens eine schwere Depressioni erleiden. Einen Selbstmordversuch begehen schätzungsweise 10–15 % der Betroffenen. Im Zusammenhang mit einer Depression sterben wesentlich mehr Menschen als durch Verkehrsunfälle. Die Depression ist eine wesentliche Ursache für Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung. 

Wegen der außergewöhnlichen Bedeutung für die Betroffenen, aber auch angesichts des volkswirtschaftlichen Schadens erscheint es dringend notwendig, die Gründe für die Entstehung einer Depression aus evolutionärer Sicht sorgfältig zu analysieren. Nur wenn die Gesamtzusammenhänge richtig verstanden werden, kann der Depression entschiedener entgegengewirkt werden.

In diesem Artikel wird lediglich die klinische bzw. schwere Depression, auch Major-Depression genannt, beschrieben.ii Diese ist auffallend häufig bei einer bestimmten altruistisch erscheinenden Persönlichkeitsstruktur zu finden, die Fritz Riemann in seinem Buch „Die Grundformen der Angst“ als ‚depressive Persönlichkeit‘ bezeichnet. Allerdings steht hier nicht – wie bei Riemann – eine psychologische Sichtweise im Fokus, sondern die Depression wird aus evolutionstheoretischer Sicht betrachtet. Leichte Formen von Depressionen gehören zum normalen Alltag und werden in diesem Artikel nicht thematisiert.

Um die Depression besser zu verstehen, ist es erforderlich zu erforschen, warum die Depressionsauslöser ein derart komplexes Programm in Gang bringen und die betroffenen Menschen so sehr leiden müssen.

Wenn die Depression ein Problem des Älterwerdens wäre – die Funktion aller Organe einschließlich des Gehirns verschlechtert sich mit zunehmendem Alter –, könnte sie wissenschaftlich als normale Degeneration angesehen werden. Dagegen spricht, dass Menschen ihre erste Depression fast in jedem Alter bekommen können und das Depressionsprogramm, sobald es abgerufen wird, aufgrund der Komplexität eine erhebliche Leistung des Gehirns sein muss. Die Depression ist deshalb nicht vergleichbar mit Krankheiten, wie sie durch Parasitenbefall, Krebs, Organversagen oder schädliche Mutationen bzw. Erbkrankheiten verursacht werden.

Auch wenn viele Psychologinnen und Psychologen sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten dies lange nicht zur Kenntnis nehmen wollten, konnte im Rahmen der Zwillingsforschung bewiesen werden, dass die genetische Veranlagung einen erheblichen Einfluss auf die Depressionsanfälligkeit eines Menschen hat. Menschen, in deren Verwandtschaft jemand depressiv war oder ist, haben ein deutlich höheres Risiko, selbst eine Depression zu bekommen. Auch wenn während der Kindheit die Neigung zur Depression durch Erfahrungen mit depressionsanfälligen Eltern beeinflusst wird, so bleiben ausreichend Anhaltspunkte, um einen deutlichen Einfluss der Genetik zu erkennen.iii Auch ist die Existenz einer weltweit vorhandenen Kernsymptomatik, unabhängig von Kultur, Nation und Religion, als Hinweis auf eine genetische Verankerung und auf ein hohes Alter des Depressionsprogramms zu sehen.

Der Mechanismus der Selektion besteht bekanntlich darin, dass Individuen mit Merkmalen, die für das Überleben und die Fortpflanzung vorteilhaft sind, mehr Nachwuchsiv gesund ins geschlechtsreife Alter bringen können als andere. Deshalb begünstigt die Evolution normalerweise keine Lebewesen, die weniger lebenstüchtig als ihre Artgenossen sind, die die Nahrung verweigern und die nicht mehr in der Lage sind, ihren Körper zu pflegen und ihren familiären und beruflichen Verpflichtungen nachzukommen. Auch werden nicht diejenigen evolutionär favorisiert, die freiwillig aus dem Leben scheiden.

Bei der Komplexität der Depression scheint es naheliegend, diese weniger als einen psychischen oder körperlichen Defekt zu begreifen, sondern vielmehr als ein genetisch festgelegtes, umfangreiches Programm, das durch bestimmte Auslöser aktiviert wird und das den Menschen in seinen Empfindungen und seinem Verhalten grundlegend verändert. Es müssen im Lauf der Menschheitsgeschichte viele Mutationen über einen größeren Zeitraum hinweg notwendig gewesen sein, um dieses komplexe Programm entstehen zu lassen. Wenn die Evolution des Menschen zu einem derart komplexen Programm führte, das nicht der Selektion zum Opfer fiel, muss die Depression dem Menschen während der Steinzeit über viele Jahrtausende bedeutende Vorteile gebracht haben und somit adaptiv sein.

Welchen Zweck hat die Depression? Warum wurden diejenigen Gene, die den Menschen für eine Depression und die damit verbundenen Qualen anfällig machen, nicht durch die natürliche Selektion eliminiert? Müsste die Depression nicht längst ausselektiert worden sein, wenn die Depression für die Erhaltung der Gene der Betroffenen überwiegend nachteilig war? Dass dies nicht geschehen ist, spricht für eine evolutionäre Anpassung, auch wenn die Depression dem Depressiven keinen Fitnessvorteil brachte.

In diesem Artikel soll erklärt werden, warum die Gene für die Depression während der Steinzeit begünstigt wurden und bis heute erhalten blieben, obwohl die Depression dem Depressiven zu keiner Zeit einen Fitnessvorteil brachte. Dies steht im Widerspruch zur Auffassung der Evolutionspsychologinnen und Evolutionspsychologen, die einen Fitnessvorteil für den depressiven Menschen annehmen.

Historische Betrachtung der Depression

Die von vielen Fachleuten vertretene Annahme, die Depression sei eine Neuzeiterscheinung, ist nicht zutreffend, da die Depression, wie aus alten Aufzeichnungen ersichtlich ist, schon seit biblischen Zeiten, also seit weit mehr als tausend Jahren, existiert.

Dafür, dass die schwere Depression keine neuzeitliche Erscheinung ist, sondern sich bereits während der Steinzeit entwickelte und adaptiv ist, spricht auch, dass sie ein typisches Erscheinungsbild aufweist, das gemäß Aufzeichnungen in allen menschlichen Kulturen und Völkern über weit mehr als tausend Jahre annähernd gleich ist. Das immer gleiche Erscheinungsbild der Depression ist auch bei allen Kulturen zu beobachten, in denen die Menschen noch wie in der steinzeitlichen Vergangenheit leben, und ist somit ein deutliches Indiz für das hohe Alter des Depressionsprogramms.

Das Leben der menschlichen Vorfahren mit ihren verschiedenen Kulturen zu schildern ist schwierig, da kaum noch unberührte Naturvölker existieren, die Schlüsse auf das Leben über viele tausend Jahre hinweg gestatten. Auch die Berichte von Missionarinnen und Missionaren sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, zum Beispiel von Irenäus Eibl-Eibesfeldt (1997), bieten nur wenig Einblicke in das steinzeitliche Leben. Ebenso sind die Erkenntnisse aus der Archäologie in dieser Hinsicht dürftig. Deshalb sind wir auf logisch nachvollziehbare Thesen angewiesen, wie sie zum Beispiel bei Geoffrey Miller (sexuelle Evolution), Amotz und Avishag Zahavi (Handicap-Prinzip) und David M. Buss (evolutionäre Psychologie) zu finden sind.

Das in der Steinzeit nützliche hochkomplexe Programm der Depression ist auch heute noch in den menschlichen Genen verankert, aber aufgrund der veränderten sozialen Strukturen konnte sich der Mechanismus der schweren Depression in der heutigen schnelllebigen Zeit über die Selektion nicht rechtzeitig an die veränderten Bedingungen anpassen, befindet sich deshalb im Chaos und ist im Gegensatz zu früher fast immer sinnlos und schädlich. Folglich hat das Depressionsprogramm seinen ursprünglichen Nutzen verloren, sodass die Gesetze, die eine Depression auslösen, kaum noch erkennbar sind. Zu einer sinnlosen Krankheit ohne erkennbaren Nutzen ist die Depression folglich erst in unserer Zeit geworden.

Ob die Zahl der Depressionen zugenommen hat, ist schwer feststellbar, da die Depression früher weniger beachtet wurde. Eine Zunahme ist jedoch denkbar, da die Mitglieder einer Gruppe in früheren Zeiten wesentlich häufiger eine Aufgabe hatten, bei der sie wenig oder nicht mit anderen Mitgliedern konkurrieren mussten, sodass sie seltener zu den Verlierenden gehörten. Dies ist heute anders. Der Mensch steht in ständiger Konkurrenz und fast immer findet sich jemand, der eine bestimmte Aufgabe besser erledigen kann. Verlieren bedeutet schwindende Anerkennung und somit Abwertung. Dies erhöht die Depressionsanfälligkeit, wie später in diesem Artikel noch begründet wird.

Evolutionstheoretische Interpretationen zur Depression

Viele Evolutionspsychologinnen und Evolutionspsychologen vertreten die Meinung, dass die schwere Depression zu häufig vorkommt, um nur als Krankheit ohne Nutzen für die Gene des Betroffenen betrachtet zuwerden. Deshalb nehmen sie an, dass die Depression adaptiv sein muss. Aufgrund dieser Erkenntnis sind verschiedene Hypothesen entstanden, von denen in diesem Artikel wegen des Umfangs nur einige wenige vorgestellt werden. Weitere Theorien werden im folgenden Beitrag präsentiert.

Der Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hellv versteht das depressive Geschehen als Hochschaukeln biologischer und psychologischer Prozesse, die grundsätzlich adaptiv sind, aber außer Kontrolle geraten können. Eine Deprimierungvi fasst Hell als evolutionär sinnvolle Einrichtung auf, die, so Hell, aber dysfunktional werden kann. Laut Hell ist sie sinnvoll, weil sie eine Art Stillstand im Sinne einer kognitiven und psychomotorischen Aktionshemmung darstellt, die falsche Schritte verhindert und den Menschen von voreiligen Handlungen zurückhält.

Etwas unklar ist, ob Hell von einer klinischen Depression oder von einer depressiven Verstimmung ausgeht. Hier fehlt zudem ein Hinweis, unter welchen Umständen eine Depression dysfunktional werden bzw. außer Kontrolle geraten kann. Wenn eine schwere Depression eine außer Kontrolle geratene adaptive Depression sein soll, fehlt bei der Darstellung von Hell der Hinweis, warum auffallend viele Menschen unter einer schweren Depression leiden müssen. Eine außer Kontrolle geratene Depression ist nur in seltenen Ausnahmen denkbar, da eine außer Kontrolle geratene Depression bzw. nicht adaptive Depression der Selektion zum Opfer fallen würde.

Laut Hell kann eine Deprimierung zudem zu wacher Anspannung und pausenlosem Denken führen, um nach Lösungen für Probleme zu suchen.

Pausenloses Denken führt erfahrungsgemäß bei depressiven Menschen nur selten zu einer brauchbaren Lösung und ist somit nicht zielführend, wie auch von erfahrenen Fachleuten bestätigt wird. Das Denken dreht sich im Kreis und ist wenig produktiv. Auch wird eine depressive Person, die sich mit Suizidgedanken quält, kaum die gewünschte Lösung finden. Wahrscheinlich waren die Denkmuster während der Steinzeit, die weitgehend genetisch verankert sind, sinnvoller.

Schließlich sieht Hell noch einen sozialen Vorteil in der Deprimierung. Er vertritt die Meinung, dass der Ausdruck von Hilflosigkeit zu Schonung und Unterstützung durch die Mitmenschen führen kann. Das Ziel der depressiven Verstimmung ist demnach, dass Betroffene von ihrem Umfeld verstanden werden und auf Grundlage eines solchen Verständnisses Vorteile für ihre Lebensbewältigung erfahren.

Das Verhalten einer depressiven Person wird von den Mitmenschen, die selbst noch keine Depression erlebt haben, erfahrungsgemäß meist nicht oder falsch verstanden. Dies führt dazu, dass die depressive Person oft gemieden wird und dass sich ihre sozialen Kontakte reduzieren. Die Erfahrung zeigt zudem, dass depressive Menschen meist weniger Schonung und Zuwendung erfahren als sonstige kranke Menschen. Stattdessen werden sie mit Vorwürfen und der Aufforderung konfrontiert, sich endlich einmal zusammenzureißen und die anstehenden Aufgaben zu erledigen.

Betrachtet man das Verhalten des sozialen Umfeldes bei Naturvölkern und zieht daraus Rückschlüsse, wie es während der Steinzeit gewesen sein könnte, so ist anzunehmen, dass auf depressive Familienmitglieder meist wenig Rücksicht genommen wurde, diese sich selbst überlassen waren und häufig verhungerten, was auch heute noch bei vielen Naturvölkern zu beobachten ist. Bei manchen Naturvölkern werden die Depressiven sogar zum Suizid aufgefordert.vii

In unserer Kultur bemüht man sich hingegen trotz mancher Defizite wesentlich intensiver um das depressive Familienmitglied. Jedoch erzeugt die häufig zu beobachtende Tendenz des Depressiven, sich nicht oder kaum an Angehörige zu wenden, sich zurückzuziehen und gutgemeinte Ratschläge nicht anzunehmen, Frust bei den Familienangehörigen. Die Mitmenschen erkennen das Ausmaß des Schmerzes zumeist nicht und interpretieren das depressive Verhalten häufig als Faulheit.

Auch erscheint es nicht angebracht, eine komplexe Depression als eine sinnvolle Antriebshemmung zu sehen, da die Evolution meist den einfacheren Weg beschreitet, um einen Mensch vor falschen Schritten und voreiligen Handlungen zurückzuhalten.

Die Evolution macht in der Regel keine Umwege, sondern verfolgt den einfacheren Weg, der leichter zu finden und meist in ähnlicher Form bereits lange vorher entstanden ist. Wenn ein Mensch falsche Schritte und voreilige Handlungen meiden und sich von seinen ehrgeizigen Zielen distanzieren soll, so wäre es für die Evolution wesentlich leichter, dieses Ziel mit Hilfe einer lähmenden Müdigkeit zu erreichen, ohne dass der Betroffene das gesamte depressive Programm des extremen Leidens ertragen muss. Müdigkeit und Antriebslähmung musste die Evolution nicht über viele Mutationen finden, denn Müdigkeit existiert schon seit Jahrmillionen. Ein derart vielseitiger Aufwand, wie er bei einer Depression zu beobachten ist, ist für den von Hell genannten Anlass nicht zielführend und im Rahmen der Evolution nicht denkbar. Auch für die Tatsache, dass depressive Menschen häufig Suizid begehen, hat Hell keine annehmbare Erklärung.

Paul J. Watson und Paul W. Andrewsviii behaupteten, dass die Depression es erlaube, sich auf Probleme voll zu konzentrieren. Gerade ein deprimierter Mensch könne dadurch gute Lösungen finden.

Das entspricht nicht der Realität. Die Qualen der Depression sind sicher nicht geeignet, um eine Lösung zu finden. Die sich ständig wiederholenden quälenden Gedanken des depressiven Menschen drehen sich im Kreis, sind alles andere als produktiv und behindern das Finden einer Lösung. Es ist bekannt, dass depressive Menschen kaum aus einer überstandenen Depression lernen. Die Notwendigkeit, das bisherige Leben zu ändern, wird meist nicht erkannt. So wird das vorherige Leben nach der Depression meist weitgehend unverändert weitergeführt. Außerdem fehlt auch hier eine Erklärung für die hohe Suizidneigung von depressiven Menschen.

Laut Anthony Stevens und John Priceix soll ein Mensch durch die Depression davon abgehalten werden, sich mit kostspieligen Herausforderungen zu beschäftigen. Außerdem erklärten die Autoren, dass die Depression unterwürfiges Verhalten auslöse, das darauf abziele, andere zu besänftigen und weitere aggressive Übergriffe zu verhindern. Auch kann sich, so Stevens und Price, eine Depression einstellen, wenn sich jemand als Belastung für andere empfindet oder bei einer bedeutenden Aufgabe versagt, da auf diese Weise eine weitere Beschäftigung mit Herausforderungen vermieden wird.

Um einen Menschen davon abzuhalten, sich mit kostspieligen Herausforderungen zu beschäftigen, ist es vollkommen ausreichend, wenn der betreffende Mensch, wie bereits bei Hell erwähnt, von einer lähmenden Müdigkeit befallen wird. Dies gilt auch für das unterwürfiges Verhalten, das darauf abziele, andere zu besänftigen und weitere aggressive Übergriffe zu verhindern, sodass eine komplexe Depression keinen Sinn macht. Richtig ist, dass sich eine Depression entwickeln kann, wenn sich jemand als Belastung für andere empfindet oder bei einer bedeutenden Aufgabe versagt. Um nach einem Versagen eine weitere Beschäftigung mit Herausforderungen zu vermeiden, ist auch hier eine Depression ohne Nutzen, denn eine lähmende Müdigkeit und Antriebslähmung würde, wie auch bei Hell erwähnt, ausreichen. Wenn Stevens und Price davon ausgehen, dass der Betreffende mit seiner Depression gezwungen wird sich zurückzuziehen, um auf diese Weise eine weitere Beschäftigung mit Herausforderungen zu vermeiden, wären die Gene für Menschen mit dieser Strategie bereits während der Steinzeit ausselektiert worden, da nutzlose Esser keine Akzeptanz besessen haben. Wie bereits erwähnt, verfolgt die Evolution meist den Weg des geringsten Widerstandes, sodass der von Stevens und Price vorgeschlagene Weg, der wesentlich aufwendiger ist, von der Evolution kaum zur Vermeidung von Herausforderungen eingeschlagen wurde. Außerdem fehlt auch bei Stevens und Price eine Erklärung für die hohe Suizidneigung.

Edward H. Hagenx vergleicht die Depression mit einem Arbeitsstreik. Laut ihm ist die Depression eine Aufforderung an das soziale Umfeld, die betroffene Person besser zu behandeln.

Ein Arbeitsstreik wäre während der Steinzeit sinnlos gewesen, denn kaum jemand hätte eine im Sinne der depressiven Person positive Reaktion gezeigt.

Nach der Auffassung von Hagen kann die Androhung eines Suizids funktional sein, obwohl es der Suizid selbst nicht ist. Suizidversuche sind laut Hagen also notwendig, um die Glaubwürdigkeit entsprechender Drohungen zu unterstreichen. Deshalb müsse der Depressive das Risiko des Todes eingehen.

Diese Art von Erpressung hätte in der Steinzeit nicht funktioniert, da kaum jemand eine depressive Person am Suizid gehindert hätte. Bei Nomadenvölkern wurden alte depressive und nutzlose Menschen meist zurückgelassen. Bei vielen Naturvölkern wurden unnütze Mitglieder zum Suizid aufgefordert oder von Sippenmitgliedern ermordet. Die Aufforderung zum Suizid ist bei Naturvölkern zum Teil auch heute noch üblich.xi Zudem ist einzuwenden, dass viele Depressive ihre Suizidabsichten verbergen.

Darüber hinaus kann bei einem Suizid, der fast hundertprozentig sicher geplant und durchgeführt wird, keine Rede von einer Drohung sein, die dem Suizidalen einen Vorteil bringen würde. Vor allem Männer planen und realisieren oft einen absolut sicheren Suizid.xii Auch verhält sich eine depressive Person nicht so, als würde sie eine bessere Behandlung erzwingen wollen, sondern benimmt sich häufig abweisend. Die Darstellung von Hagen ist daher nicht nachvollziehbar.

Einen vollkommen anderen Weg gehen Andrew H. Miller und Charles L. Raisonxiii, die einen Zusammenhang zwischen der Depression und dem Immunsystem annehmen. Der evolutionäre Sinn einer Depression kann laut den Forschern in der Funktion gesehen werden, Infektionen abzuwehren. Das bedeutet, Menschen mit depressiven Veranlagungen konnten sich dieser These zufolge deshalb ausreichend fortpflanzen, weil sie über ein besseres Immunsystem verfügten.

Hiergegen ist einzuwenden, dass eine Depression ein komplexes Geschehen ist und deshalb nicht mithilfe dieser eindimensionalen Theorie erklärt werden kann. Zudem ist ein Zusammenhang zum Immunsystem nicht zu erkennen. Vielmehr ist bekannt, dass das Immunsystem bei depressiven Menschen nicht besser, sondern schlechter funktioniert. Des Weiteren ist nicht einzusehen, weshalb die Evolution die Depression benötigen sollte, um ein besseres Immunsystem hervorzubringen. Dies widerspricht den Gesetzen der Evolution. Auch bei Miller und Raison ist folglich kein überzeugender Ansatz zu erkennen. Zudem wird nicht geklärt, warum die Suizidgefahr so hoch ist.

Laut Andrew Solomonxiv ist es möglich, gegen die Depression anzukämpfen. Dabei lässt Solomon jedoch außer Acht, dass bei einer schweren Depression das depressive Programm so mächtig ist, dass ein Ankämpfen seitens der Betroffenen weitgehend unmöglich ist.

Ferner schrieb Solomon, dass die Energie, die jemand aufbringt, um gegen die Depression anzukämpfen, von Mensch zu Mensch unterschiedlich sei, und fügte hinzu, dass auch Depressive manchmal Hochgefühle empfinden, zum Beispiel, „wenn die Sonne besonders hell scheint, wenn alles köstlich schmeckt, wenn die Welt voll von Möglichkeiten ist“xv.

Dies widerspricht der Erfahrung, die schwer Depressive fast immer machen. Eine schwere Depression beinhaltet keine Hochgefühle. Ein schwer depressiver Mensch erfreut sich nicht an der Sonne und auch nicht an gutem Essen, sondern verweigert in der Regel die Nahrung und meidet die Sonne. Solomon beruft sich offenbar auf eine reaktive Depressionsform, die wesentlich weniger belastend ist und die aus Sicht der Evolution anders interpretiert werden muss, als eine schwere bzw. klinische Depression. Der klinischen Depression weicht Solomon aus.

Wissenschaftler/-innen wie Nicholas B. Allen, Hagop S. Akiskal, Dan G. Blazer, Paul B. T. Badcock, Bruno Baumann, Claudia Bornschlegl, Bernhard Bogerts, Howard G. Birnbaum, Evelyn J. Bromet, German E. Berrios, Christopher M. Callahan, Robert Dantzer, Jean Endicott, Manfred M. Fichter, Jess G. Fiedorowicz, Erica Goode, Paul Gilbert, Gregg Hendriques, Zachary Garfield, Colin Hendrie, Allan V. Horwitz, Lewis L. Judd, Dieter Krell, Ronald C. Kessler, Julia M. Klein, Dennis K. Kinney, Martin B. Keller, Gabriele Kohlböck, Philip W. Lavori, Andrew C. Leon, Katherine A. McGonagle, Timothy I. Mueller, Jack D. Maser, Randolph M. Nesse, Christopher B. Nelson, Daniel Nettle, Susan Nolen-Hoeksema, Charles B. Nemeroff, Michael J. Owens, Alasdair Pickles, Norbert Quadflieg, Tom Rosenström, Kristen Syme, Martin Seligman, Marvin Swartz, Anderson J. Thompson, Midori Tanaka, Jerome C. Wakefield, Donald Wittman und weitere Evolutionspsychologinnen und Evolutionspsychologen bieten ebenfalls Möglichkeiten an, die erklären sollen, warum eine Depression adaptiv sein könnte. Diese Theorien sind auch unter folgenden Bezeichnungen zu finden: psychische Schmerzhypothese, analytische Wiederkäuhypothese, Rangtheorie, Sozialrisikohypothese, ehrliche Signaltheorie, Verhandlungstheorie, soziale Navigation (Nischenänderungstheorie), Depression als Anreizinstrument, Infektionsprävention, dritte Ventrikelhypothese und Möglichkeiten der Depression als fehlregulierte Anpassung. Auch unter diesen Erklärungsansätzen befinden sich keine überzeugenden Argumente im Hinblick auf eine Erklärung, warum eine Depression adaptiv sein soll. Eine nähere Auseinandersetzung mit diesen Theorien und Interpretationen steht allerdings noch aus und erfolgt in einem späteren Artikel. Ein Argument von Bedeutung lässt sich jedoch auch hier nicht erkennen.

Im Folgenden werden nochmals kurz die Argumente zusammengefasst, die gegen die Hypothesen der Forscherinnen und Forscher sprechen: Keine der bekannten Theorien liefert eine stichhaltige Erklärung dafür, warum die Evolution ein komplexes Programm wie das der schweren Depression hervorgebracht hat, warum die Betroffenen so leiden müssen und warum die Suizidneigung so hoch ist. Wenn ein Mensch sich zum Beispiel vor aggressiven Auseinandersetzungen zurückziehen soll, könnte er – wie bereits erwähnt – einfach nur von einer lähmenden Müdigkeit befallen werden, anstatt das volle Programm des depressiven Leidens bis hin zur Neigung zum Suizid zu erfahren. Die Fähigkeit zu lähmender Müdigkeit besitzt vermutlich jeder Mensch und war bereits in den Genen affenähnlicher Vorfahren verankert. Müdigkeit existiert bereits seit Urzeiten, also lange vor dem Programm der schweren Depression und musste nicht erst aufwendig über Mutation und Selektion entstehen. Da Evolution meist auf dem einfachsten Weg stattfindet, ist es nicht einleuchtend, dass die Evolution einen neuen erheblich komplexeren Weg, wie den der Depression, der wesentlich aufwendiger und schwerer zu finden und weniger effektiv ist, findet und verfolgt. Die vorliegenden Überlegungen sind daher als Erklärung, warum die Depression für die Gene des Depressiven nützlich sein soll, nicht plausibel. Der von den Forschenden vorgeschlagene Nutzen einer Depression kann daher nicht überzeugen.

Evolutionäre Entwicklung zum Erhalt der elterlichen Gene

Im Folgenden soll erklärt werden, warum die Depression während der Steinzeit, in der sich die heute noch wirksamen genetischen Dispositionen entwickelten, dazu beitrug, dass die Gene der Eltern des Depressiven sicherer erhalten blieben. Diese These steht im Widerspruch zur Auffassung jener Evolutionspsychologinnen und Evolutionspsychologen, die einen Fitnessvorteil für den Depressiven annehmen.

Selbst wenn eine Depression die Fortpflanzung einzelner Nachkommen reduzierte oder gar verhinderte, war meist der gesamte Fortpflanzungserfolg eines Elternpaares bzw. die Aussicht auf Fortbestand der elterlichen Gene über die Generationen hinweg größer, wenn eines oder mehrere Kinder die Eigenschaften einer depressiven Persönlichkeitxvi besaßen und eine größere Anfälligkeit für eine Depression aufwiesen. Dies ist im Zusammenhang mit der Relevanz für den genetischen Fortbestand in Krisenzeiten zu sehen: Nicht die guten Zeiten waren entscheidend für den Fortbestand der elterlichen Gene, sondern die lebensbedrohenden Zeiten, in denen nicht alle Familien und Sippen überlebten, denn nur hier konnte die Selektion entscheidend greifen.

Im Verlauf der menschlichen Evolution war das Leben immer wieder durch Bedrohungen geprägt. Bei länger anhaltendem Nahrungsmangel bestand beispielsweise die Gefahr, dass nicht alle Familienmitglieder überlebten. In solchen Zeiten waren die Aussichten auf den Fortbestand der elterlichen Gene besser, wenn vorzugsweise ein weniger angesehener Nachkomme depressiv wurde und die Nahrung verweigerte oder Suizid beging. Dadurch standen für die depressionsfreien Geschwister mehr Lebensmittel zur Verfügung, sodass sich das Risiko feindseliger Konflikte zwischen den Familienmitgliedern verringerte und der Fortbestand der elterlichen Gene durch die überlebenden Geschwister sicherer war. In der Steinzeit bedeutete dies meist, dass der Depressive, wenn nicht alle überleben konnten, im Interesse der elterlichen Gene geopfert wurde.

Selbstverständlich wurde der Nachkomme nicht bewusst depressiv und die Verweigerung der Nahrungsaufnahme stellte auch keinen absichtlichen Akt der Opferbereitschaft dar, sondern Genetik und Prägung bewirkten dieses Verhalten und bedingten den Ausbruch einer Depression.

Wenn ein Mensch in der Steinzeit bei Gefahr dazu neigte, sich für seine Geschwister und etwas weniger intensiv für seine entfernteren Verwandten einzusetzen und sogar sein Leben zu riskieren, geschah dies weitgehend aufgrund seines Erbguts, das ihm die Eltern aus eigenem Interesse mitgegeben hatten.

Vor allem der Depressive setzte sich besonders für seine nahen Verwandten ein. Er opferte sich – unbewusst – nur deshalb für seine Geschwister und somit für die Nachkommen seiner Eltern, da dies den Erhalt der Gene seiner Eltern nutzte. Seine Opferbereitschaft war meist umso ausgeprägter, je mehr er die Eigenschaften einer depressiven Persönlichkeit besaß.

Diese Darstellung darf nicht mit der Theorie von Hamiltonxvii verwechselt werden, die unter den Bezeichnungen ‚Verwandtenselektion‘ und ‚Gesamtfitness‘ bekannt und umstritten ist. Hamilton versuchte zu erklären, warum wir Menschen, die genetisch mit uns verbundenen sind, mehr Hilfe zukommen lassen als Fremden. Er gibt als Grund für die Vererbung dieses selbstlosen und kooperativen Verhaltens an, dass ein Mensch, der sich genetisch Verwandten gegenüber altruistisch verhält, dadurch selbst genetisch profitiert. Eine Gleichsetzung mit Hamiltons Theorie wäre demzufolge eine Fehlinterpretation.

Bei Familien mit ausschließlich depressionsfreien Mitgliedern bestand eine größere Gefahr, dass in Notzeiten die ganze Familie ausstarb und eine andere Familie, die eine bessere Überlebensstrategie mit teilweise depressionsanfälligen Mitgliedern hatte, den freigewordenen Platz einnahm.

Da sich die Genetik in unserer Zeitwahrnehmung nur langsam anpasst, ist es verständlich, dass das steinzeitliche genetisch diktierte und von der Umwelt beeinflusste Verhalten weitgehend auch heute noch zutrifft, auch wenn kaum noch ein Sinn erkennbar ist.

Die Genetik und größtenteils auch die Prägung erhält der betroffene Nachkomme auch heute noch von seinen Eltern, und beide Einflüsse stehen in Wechselwirkung zueinander. So hat die Genetik einen Einfluss auf das Prägungsverhalten der Eltern, das weitestgehend unbewusst abläuft.

Auch Nachkommen, die für eine Depression wenig anfällig sind, besitzen die Gene für eine depressive Persönlichkeit und für Depressionsanfälligkeit, sodass sie – wie schon während der Steinzeit – unterschiedlich veranlagte Nachkommen zeugen.xviii

Einfluss des gesellschaftlichen Ansehens

Die elterlichen Gene konnten während der Steinzeit auch dann mit größerer Wahrscheinlichkeit erhalten bleiben, wenn ein Nachkomme, der befürchtete, dass er aufgrund seiner schwachen Leistung den Ruf der Familie schädigen könnte, und sich als Belastung empfand, depressiv wurde. Dies war besonders bei einer depressiven Persönlichkeit, die sich minderwertig empfand, zutreffend. Da der Ruf der Familie während der Steinzeit von außerordentlicher Bedeutung war, erschien es manchem depressiven Familienmitglied sinnvoll, zugunsten der Eltern bzw. der elterlichen Gene Suizid zu begehen, was diesem Familienmitglied durch sein depressives Leiden weniger schwerfiel. Da eine Frau während der Steinzeit mehrere Kinder zur Welt brachte, war für die Eltern der Verlust eines Kindes oft von geringerer Bedeutung als der Verlust des Ansehens.

Auch heute ist noch zu beobachten, dass ein als attraktiv empfundener Partner unattraktiver erscheint, sobald bekannt wird, dass seine Familie von niedrigem Rang ist. Dies liegt daran, dass der attraktive Partner mit den weniger attraktiven Eltern und Geschwistern die Gene seiner Familie besitzt und weitervererben wird. Deshalb wurde der Partner früher weitgehend nach dem sozialen Stand der Familie ausgewählt. Dies ist – etwas weniger ausgeprägt – in vielen Kulturen auch heute noch zutreffend.

Einfluss des sozialen Umfeldes

auf die Eigenwertempfindung des Depressiven

Vor und während seiner Leidenszeit sucht ein depressiver Mensch, wie schon während der Steinzeit, nach Indizien, die ihm eine Orientierung ermöglichen, ob er noch einen ausreichenden Wert für seine Familie, und weniger dringlich, auch für sein sonstiges soziales Umfeld hat. Er stellt diese Frage über einen längeren Zeitraum, denn nur so bekommt er eine ehrliche Antwort. An der Reaktion des Umfeldes, insbesondere seiner Familie, kann der Depressive auch heute noch erkennen, welchen Wert er für seine nächsten Verwandten hat. Wenn sich seine Familie während seiner Leidenszeit geduldig und notfalls über mehrere Monate ausdauernd um ihn bemüht und trotz Nahrungsverweigerung geduldig mit Nahrung versorgt, erhält er meist ausreichend Indizien dafür, dass er für seine Familie noch von Bedeutung ist, sodass sich seine Depression meist wieder auflöst.

Die Frage nach dem Wert wird in erster Linie von Frauen gestellt. Ein Suizidversuch mit der Chance, rechtzeitig gerettet zu werden, kann eine Frage mit höchster Dringlichkeit sein.

Männer neigen im Gegensatz zu Frauen dazu, ihren Wert selbst zu bestimmen. Wenn ein Mann vom sozialen Umfeld nicht rechtzeitig aufgefangen wird, wird ein Suizidversuch wesentlich häufiger als bei Frauen mit endgültigen Folgen geplant und durchgeführt. Der Suizid wird umso wahrscheinlicher, je unwichtiger und wertloser sich der Depressive findet.

Aber auch dann, wenn sich die Familie um das depressive Familienmitglied sorgt, verschwindet dessen Depression meist nicht sofort. Erst dann, wenn die Familie lange genug geprüft und belastet wurde, kann sich das depressive Familienmitglied sicher sein, dass es für die Familie noch von Bedeutung und nützlich ist. Je mehr Wert auf Leistung gelegt wird, je stärker die Wertschätzung des betroffenen Individuums von der erbrachten Leistung abhängt und je weniger die Erwartungen erfüllt werden, sodass die Wertschätzung ausbleibt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die betroffene Person depressiv reagiert. Diese Verhaltensmuster dürften während der Steinzeit kaum anders gewesen sein.

Das Verhaltensprogramm von Depressiven, das auch als altruistisch bezeichnet werden könnte, hat heute unter den veränderten kulturellen Bedingungen allerdings seine ursprüngliche Funktion verloren und stellt nur noch eine schädliche Belastung für die Betroffenen und deren Angehörige dar.

Die Neigung, die Frage nach seinem Wert zu stellen, wird neben dem genetischen Einfluss auch durch Prägung während der Kindheit, durch gegenwärtige Erfahrungen mit den Eltern und sonstige Umwelteinflüsse, wie zum Beispiel am Arbeitsplatz, begünstigt.

Prägung durch die Eltern

Um eine möglichst sichere Weitergabe der elterlichen Gene zu begünstigen, bewirkten die Eltern während der Steinzeit durch ihre Erziehung und durch ihr Verhalten eine Prägungxix bei ihren Kindern. Auch wenn der Nutzen dieser weitgehend unbewusst ausgeübten Prägung inzwischen fraglich ist, oft nur sinnloses Leid verursacht und nicht mehr der Weitergabe der elterlichen Gene dient, machen sich die steinzeitlichen Instinkte, die auch die Prägung bestimmen, immer noch bemerkbar. Eltern erkennen zum Teil auch heute noch instinktiv, welches Kind die genetischen Voraussetzungen mitbringt, um eine Prägung zur depressiven Persönlichkeit und zu einer verstärkten Depressionsneigung anzunehmen.

Durch Prägung bestimmen in erster Linie die Eltern bei den Nachkommen während der Kindheit, wer später unter bestimmten Voraussetzungen eine Persönlichkeitsstruktur mit erhöhter Depressionsneigung entwickelt und wer altruistisches oder egoistisches Verhalten zeigen soll. Aber auch das sonstige soziale Umfeld hat einen Einfluss, allerdings ist dieser deutlich geringer. Die Entwicklung zu einer Persönlichkeit mit erhöhter Depressionsneigung durch Prägung wird ebenfalls genetisch beeinflusst.

Während der Steinzeit war die jeweilige Prägung der Nachkommen für die elterlichen Gene meist positiv, auch wenn das Leben einiger Nachkommen dadurch negativ verlief. Die Eltern bestimmen auch heute noch, weitgehend unbewusst, in welchem Ausmaß sie welche Prägung jedem einzelnen Kind zukommen lassen. Zum Beispiel ist ein Mangel an elterlicher Fürsorge für das Kind ein prägendes Indiz dafür, dass es weniger wertvoll ist. Wenn zu einer genetischen Veranlagung noch eine durch Kindheitsprägung verursachte Neigung zur Depression hinzukommt, steigt das Risiko des Ausbruchs einer Depression erheblich. Einflüsse, die im Verlauf des Erwachsenenlebens hinzukommen, können ebenfalls einen – wenn auch weniger dominanten – Einfluss auf die Depressionsanfälligkeit haben.

Auch das Prägungsverhalten der Eltern, das weitgehend unbewusst verläuft, wird von der Genetik beeinflusst. Die Genetik hat auch einen Einfluss, wie sich die Umweltbedingungen, die einen Menschen formen, auswirken. Eine exakte Vorhersage der zu erwartenden Entwicklungen aufgrund der Wechselwirkung zwischen Genetik und Umwelteinflüssen ist jedoch kaum möglich.

Eltern versuchen – wenn auch weniger ausgeprägt als in der Steinzeit – meist mit viel Aufwand die Ranghöhe ihrer Kinder zu steigern. Hierbei spielen die Schulnoten eine entscheidende Rolle. Im Geschwistervergleich erfährt durch das Verhalten der Eltern oft das Kind mit den schlechtesten Noten eine Prägung in Richtung depressiver Persönlichkeit und Depressionsneigung, obwohl häufig ein anderes Kind die entsprechende genetische Voraussetzung für diese Prägung hat. Wenn ein Sohn sich immer wieder anhören muss, dass er sich ein Beispiel an seiner kleinen Schwester nehmen soll, die viel bessere Noten hat, dann ist dies einer unter vielen instinktiven Prägungsversuchen, die bei einer depressiven Veranlagung bewirken, dass dieses Kind im Lauf seines Lebens mehr gefährdet ist, eine schwere Depression zu bekommen. Ähnlich problematisch ist, wenn der Vater seinem Sohn immer wieder vorhält, dass er selbst auf wesentlich bessere Leistungen zurückblicken könne und deshalb von seinem Sohn enttäuscht sei.

Auch während der Steinzeit verfolgten die Eltern gemäß dem Diktat ihrer Gene die evolutionär entstandene Strategie der Prägung ihrer Kinder, um eine möglichst sichere Weitergabe der elterlichen Gene über viele Generationen zu ermöglichen. Die Prägungsstrategie dient aber inzwischen nicht mehr der Weitergabe der elterlichen Gene, sondern verursacht nur sinnloses Leid.

Da sich die elterlichen Instinkte durch die veränderten Umweltbedingungen in der heutigen Zeit nicht mehr ausreichend orientieren können und sich die Bewertungen der kindlichen Qualitäten deutlich verschoben haben, wählen die Eltern heute oftmals versehentlich ein für eine depressive Prägung ungeeignetes Kind, was teilweise zusätzliche Probleme verursacht. Nicht mehr diejenigen Kinder, die nicht schnell genug auf einen Baum klettern können, nicht schnell genug laufen können, einen Stein nicht weit genug werfen können, im Gelände keinen guten Orientierungssinn beweisen, beim Versteckspiel keine guten Verstecke finden oder sich bei Auseinandersetzungen nicht behaupten können, erhalten eine Prägung, wie dies bei einer Persönlichkeitsstruktur mit erhöhter Depressionsneigung sinnvoll war, sondern Kinder, die in der Schule schlechter benotet werden als ihre Geschwister oder Mitschüler/-innen, sodass sie den Erwartungen der Eltern nicht genügen. Dies erfolgt vor allem, wenn die Eltern in der Schule erfolgreicher als das enttäuschende Kind waren. Das versehentlich für eine depressive Prägung ausgewählte Kind hat möglicherweise besondere Fähigkeiten, die für das Überleben in der Steinzeit lebensnotwendig gewesen wären. Durch eine falsche Prägung, also eine Prägung, die nicht zur aus der Steinzeit stammenden Veranlagung passt, wird folglich eine problematische Entwicklung des Nachkommen begünstigt. Dieser ist dadurch oft schlecht sozial angepasst und findet seinen Weg nicht.

Die Eltern manipulieren ihre Kinder genetisch über Vererbung und Prägung, aber sie konkurrieren auch gegeneinander. Die Konkurrenz der egoistischen Gene von Mann und Frau soll in einem späteren Artikel betrachtet werden.

In einem späteren Artikel werde ich versuchen, „Das egoistische Gen“ von Richard Dawkins mit einzubeziehen.

Im Zusammenhang mit der evolutionären Betrachtung der klinischen Depression und den daraus entstandenen Erkenntnissen ergeben sich effektive neuartige Therapiemöglichkeiten, die in einem weiteren Beitrag erläutert werden.

i Häufig wird der Begriff ‚depressiv‘ im alltäglichen Sprachgebrauch für eine traurig-niedergeschlagene Stimmungslage verwendet, ohne dass dies als Krankheit angesehen wird. Ein geeigneterer Fachbegriff dafür wäre jedoch ‚deprimiert‘. Die Depression ist hingegen ein ernster, behandlungsbedürftiger und oft folgenschwerer Zustand, der in der Medizin als schwere Erkrankung gilt und von den Betroffenen durch Selbstdisziplin nicht kontrolliert werden kann.

Eine Depression zu diagnostizieren ist nicht immer einfach, da häufig fließende Übergänge zu anderen psychischen Störungen existieren.

ii Eine schwere Depression kann auch im Wechsel mit Schizophrenie auftreten.

iii Vgl. https://www.aponet.de/artikel/depressionen-liegt-die-krankheit-in-den-genen-23138 und https://www.kjp.med.uni-muenchen.de/download/genetik_depression.pdf.

iv https://www.bionity.com/de/lexikon/Evolution.html

v Vgl. Hell, D (2013). „Depression als Störung des Gleichgewichts“, ISBN 978-3-17-023390-4

vi Wortschöpfung von Hell, gleichbedeutend mit ‚Depression‘.

vii Vgl. Jared Diamond (2013). „Vermächtnis: Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können“ 250-254

viii Vgl. Watson, PJ; Andrews, PW (2002), „Auf dem Weg zu einer überarbeiteten evolutionären Anpassungsanalyse der Depression: die soziale Navigationshypothese“, Zeitschrift für affektive Störungen, 72 (1): 1–14; doi: 10.1016/S0165-0327(01)00459-1, PMID 12204312.

ix Vgl. Stevens & Price (2000). „Evolutionäre Psychiatrie: Ein neuer Anfang“ ISBN-13 ‏ : ‎ 978-0415138390

x Vgl. Hagen, EH (2002), „Depression als Verhandlungssache: Der Fall nach der Geburt. Evolution und menschliches Verhalten“, 23 (5): 323–336; doi: 10.1016/S1090-5138(01)00102-7.

xi Vgl. Jared Diamond (2013). „Vermächtnis: Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können“ 250-254

xii Zum Beispiel hat ein mir bekannter Mann an einem entlegenen Ort einen Liter E605 und von einer zweiten Flasche einen Teil getrunken. Bereits einige Gramm reichen aus, um einen Menschen zu töten.

xiii Vgl. Raison, CL; Miller, AN (2012). „Die evolutionäre Bedeutung der Depression in der Pathogen Host Defense (PATHOS-D)“. Molekulare Psychiatrie 1-23. PDF-Datei.

xiv Vgl. Solomon (2006). „Saturns Schatten: Die dunklen Welten der Depression“. ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3596703609

xv Ebd. Solomon (2006). „Saturns Schatten: Die dunklen Welten der Depression“. ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3596703609, S. 407.

xvi Siehe Fritz Riemann (Grundformen der Angst).

xvii https://de.wikipedia.org/wiki/Verwandtenselektion

xviii Siehe rezessive Gene.

xix Der eigentlich aus der Zoologie stammende Begriff der Prägung wird hier gewählt, da eine geeignetere Bezeichnung nicht zur Verfügung steht. Prägung ist ein in der Psychologie häufig verwendeter Begriff.

1 thoughts on “Die Depression aus evolutionstheoretischer Sicht”

  1. Nachfolgend eine kritische Beurteilung des Depressions-Artikels aus der Perspektive der dichotomen Natur des Menschen. Dazu zunächst eine kurze Erläuterung dieser Perspektive. Als Edward O. Wilson das von ihm selbst einst begründete Paradigma der Soziobiologie mit ihrem Kern der Verwandtenselektion wieder falsifizierte („Die schöne Theorie hat ohnehin nie gut funktioniert, aber jetzt ist sie in sich zusammengestürzt.“ Edward O. Wilson, „Die soziale Eroberung der Erde“, München 2013, S. 68) und darauf aufbauend einen neuen Ansatz zur Evolution des Menschen vertrat, warf er endlich auch das Dogma der Gen-Zentriertheit mit über Bord, d.h. er räumte mit seinem neuen Ansatz der Kultur des Menschen eine gleichberechtigte Rolle neben den Genen ein und befreite so die Kultur des Menschen von den genetischen Gesetzmäßigkeiten. So sagte er etwa: „Der Aufstieg zur Zivilisation, von egalitären Verbänden und Siedlungen über Stammesfürstentum zum Staat, ging durch kulturelle Evolution vor sich, nicht auf Grund genetischer Veränderungen.“ (Wilson 2013, S. 125 f) Die bedeutende Aussage von ihm, die mit diesem dichotomen bzw. „chimären”haften Ansatz die aktuelle, so dramatische Entwicklung des Menschen als weitergehende Evolution erkennen lässt, lautet:

    „Wir sind ein evolutionäres Mischwesen, eine Chimärennatur, wir leben dank unserer Intelligenz, die von den Bedürfnissen des tierischen Instinkts gesteuert wird. Deswegen zerstören wir gedankenlos die Biosphäre und damit unsere eigenen Aussichten auf dauerhafte Existenz.“ (Wilson 2013, S. 23)

    Es bietet sich an, diesen revolutionären Schritt von Wilson mit folgender Erkenntnis von Konrad Lorenz zu ergänzen:
    „Während all der gewaltigen Epochen der Erdgeschichte, während deren aus einem tief unter den Bakterien stehenden Vor-Lebewesen unsere vormenschlichen Ahnen entstanden, waren es die Kettenmoleküle der Genome, denen die Leistung anvertraut war, Wissen zu bewahren und es, mit diesem Pfunde wuchernd, zu vermehren. Und nun tritt gegen Ende des Tertiärs urplötzlich ein völlig anders geartetes organisches System auf den Plan, das sich unterfängt, dasselbe zu leisten, nur schneller und besser. […] Es ist daher keine Übertreibung zu sagen, dass das geistige Leben des Menschen eine neue Art von Leben sei.” (Konrad Lorenz, „Die Rückseite des Spiegels”, München 1987 dtv-Verlag, S. 217)

    In der Auslassung des genannten Zitats gibt Lorenz noch den entscheidenden Hinweis, wie das einzuordnen und von wo aus es zu verstehen ist, nämlich: „Wollte man Leben definieren, so würde man sicher die Leistung des Gewinnens und Speicherns von Informationen in die Definition einbeziehen, ebenso wie die strukturellen Mechanismen, die beides vollbringen“ (Lorenz 1987, S. 217). Das Wichtigste, Grundlegendste und Unabdingbarste an der Evolution ist demnach ein codierendes System – und das hat die Evolution mit dem Menschen neben der vorhandenen genetischen Weise noch einmal auf andere, nämlich neuronale Weise, neu erfunden. Genau wie auf der genetischen Ebene werden jetzt auf der neuronalen Ebene alle wichtigen Elemente abstrahiert, codiert und dann in einem System verarbeitet.
    Diese neuronale Codierung als solche hatte sogar schon Darwin erkannt, denn er sah das Gehirn des Menschen als „wunderbare Maschine, die allen Arten von Dingen und Eigenschaften Zeichen beilegt und Gedankenreihen wachruft, die niemals durch bloße Sinneseindrücke entstehen könnten, oder, wenn dies der Fall wäre, doch nicht weiter verfolgt werden könnten“, wobei in der konsequenten Systematik daraus „die höheren intellektuellen Fähigkeiten, wie das Schließen, Abstrahieren, das Selbstbewußtsein usw., entstanden“ (Charles Darwin, „Die Abstammung des Menschen”, Stuttgart 1874/2002 Kröner Verlag, S. 268)
    Wilson belegte seinen neuen Ansatz ausgehend von der Frage „Warum sollte man die Evolution menschlicher Gesellschaften zu Zivilisationen als kulturellen und nicht als genetischen Prozess bezeichnen?” (Wilson 2013, S. 127) empirisch mit den Aborigines, die seit ca. 45.000 Jahren auf dem australischen Kontinent genetisch isoliert waren und die während dieser Zeit in ihrer Kultur nicht über das Steinzeitniveau hinausgekommen sind. Wie Wilson schreibt, können jedoch die Kleinkinder der Aborigines trotzdem die westliche Kultur problemlos lernen und übernehmen, und zwar mitsamt der Sprache und bei gleichen Bedingungen nicht wesenhaft unterscheidbar von Kindern der westlichen Völker. Das kann in einem Verständnis, das Kultur als genetisch erworben und verankert ansieht, gar nicht möglich sein. Warum können Kinder von Steinzeitvölkern, die im Verständnis zu Darwins Zeiten oft nicht einmal fähig dazu waren, im Zählen über vier hinauszukommen (vgl. Darwin 1874/2002, S. 234), plötzlich die intellektuellen Qualitäten und die Kultur der Europäer genauso übernehmen wie Kinder dieser Europäer selbst und sich so vollständig in westliche Kulturen und Gesellschaften integrieren? Weil die Kultur des Menschen grundsätzlich nicht genetisch erworben, verankert und tradiert wird, sondern ausschließlich neuronal über die Sprache.
    Tiere können höchstens über die direkte, sinnhafte Anschauung eines Objektes oder Verhaltens und so eben nur objektbezogen in einem eng umschlossenen Rahmen lernen, der Mensch aber kann objektfrei nur über die abstrakten Codierungen lernen (die selbst in der Sprache bzw. als Sprache zunächst gelernt werden), dabei diese abstrahierenden Codierungen dazu noch durch Reflexionen oder das, was wir Denken nennen, verändern und in neue Zusammenhänge bringen (vergleichbar dem Prozess von Mutation und Selektion auf der genetischen Ebene, nur eben um Größenordnungen „schneller und besser”) und diese neuen Abstraktionen oder »Mutationen« dann etwa als Idee zu einem neuen Werkzeug oder Verhalten auch anwenden. Dadurch wird dieses neuronale System zu einem hinsichtlich des Verhaltens und der Schaffung künstlicher Dinge, Werkzeuge und sozialen Strukturen zu einem evolutionär wirksamen System – und wie es in diesem Bereich wirkt, um Größenordnungen schneller und effektiver als das alte System. Das ist es, was den Menschen in einzigartiger Weise auszeichnet und was darin seine große Überlegenheit gegenüber den Tieren erklärt.

    In Verbindung mit dem Thema der Depressionen kann nun dieser Punkt des kreativen Denkens von Bedeutung sein, also nicht die bloße Weitergabe oder Tradierung von Kultur und auch nicht ihre bloße Anwendung, sondern der kreative Prozess der Modifizierung der neuronalen Information, der sich dabei mit dem Prozess von Mutation und Selektion auf der genetischen Ebene vergleichen lässt. Ähnlich dem genetischen Prozess ist auch das kreative Denken zumindest anfangs zufallsgesteuert – und es benötigt darin eine bestimmte Geisteshaltung des Zurücknehmens, des Offenseins und der achtsamen, kontemplativen Betrachtung, oder wie man es mit den Worten von Daniel Hell im Artikel als „eine Art Stillstand im Sinne einer kognitiven und psychomotorischen Aktionshemmung” bezeichnen könnte. Dieses kreative und kontemplative Denken ist darin nichts anderes als der eigentliche Motor der neuen, geistig-kulturellen Evolution des Menschen. Die Frage, wie sich diese in der genetischen Evolution sehr nachteilige Geisteshaltung in der neuen, geistig-kulturellen Evolution des Menschen halten konnte, erübrigt sich angesichts ihrer zentralen Bedeutung für die geistig-kulturelle Evolution. Doch wie kann das dann mit den Depressionen zusammenhängen?

    Hier muss zunächst festgestellt werden, dass der Übergang vom Tier zum Menschen mit seinem neuen Evolutionssystem alles andere als einfach und konfliktlos vor sich gegangen sein muss. Es muss gerade anfangs ein äußerst heikler Prozess gewesen sein – der im Grunde bis heute anhält. Die Verhaltenssteuerung der Gene musste ja sozusagen gelockert werden, damit die neue, neuronal gegründete Verhaltenssteuerung mehr und mehr übernehmen und sich durchsetzen und etablieren konnte. Wenn davon ausgegangen wird, dass besonders die Aggression im Recht des Stärkeren der Motor der genetischen Evolution ist, im Gegensatz zum genannten kreativen Denken der neuronalen gegründeten, geistig-kulturellen Evolution, so lässt sich damit nicht nur der kulturelle Fortschritt des demokratischen Gesellschaftsmodells gegenüber den autoritären Gesellschaftsmodellen begründen. Denn die zur weiteren Entwicklung bzw. Evolution unabdingbaren Auseinandersetzungen und Probleme werden im demokratischen Gesellschaftssystem unter konsequenter Verbannung der Gewalt allein auf geistige Weise gelöst, während die autoritären Systeme letztlich stets auf Macht und Gewalt nach dem animalischen Recht des Stärkeren gegründet sind. Hitler, Trump und Putin etwa stehen aktuell besonders für diesen seit Beginn der Menschwerdung weiter andauernden Konflikt der dichotomen Natur des Menschen, in der sein Verhalten aus zwei völlig unterschiedlichen Quellen gespeist wird, auf die sich auch Wilson in seinem obigen Zitat bezieht, wenn er dort sagt: „Wir leben dank unserer Intelligenz, die von den Bedürfnissen des tierischen Instinkts gesteuert wird”.

    Auch der religiöse Glaube an übernatürliche Kräfte und Wesen lässt sich von daher rein natürlich begründen. Im entstehenden Menschen entwickelte sich auf dem Raum-Zeit-Sein-Bewusstsein der Tiere gründend dank der neuen neuronal bedingten, geistigen Fähigkeiten ein Selbst-Bewusstsein heraus, in dem der Menschen sich selbst als ein vergängliches Wesen bewusst wahrnimmt. Um dieses neue geistige Leben angesichts des damaligen täglichen Überlebenskampfes aufrechtzuerhalten und darin nicht kollabieren zu lassen, bedurfte es bestimmter Unterstützungen – die sich der Mensch dank seiner neuen geistigen Fähigkeiten in Form übernatürlicher Kräfte und Wesen selbst schaffen konnte. Das gilt ebenfalls bis heute, obwohl der moderne Mensch dank seiner kulturellen Evolution nicht mehr tagtäglich mit dem Tod konfrontiert wird. Ein Beispiel für die Wirksamkeit des Glaubens an übernatürliche Dinge und Unterstützungen ist etwa der Aberglaube vieler Hochleistungssportler. Obwohl sie ansonsten in der Regel nicht besonders religiös sind, hängen viele von ihnen bezüglich ihrer Wettkämpfe irgendeinem Aberglauben an. Denn in den kritischen Momenten des Wettkampfes entscheidet oftmals die seelische oder psychische Verfassung, d.h. der Aberglaube wirkt bis heute.
    Trotz aller Technik und kulturellen Fortschritte erschüttert der letztlich unausweichliche Tod unser Selbst- und Weltverständnis. Die Religionen geben hier zwar Antworten, die jedoch einander widersprechen, sogar in den einzelnen Religionen selbst, und die allesamt modernen wissenschaftlichen Wahrheitskriterien nicht standhalten. Leider kann trotz ihrer großen Erfolge die moderne Wissenschaft die Frage der Vergänglichkeit des Menschen und des letztendlichen Seins des Menschen nicht beantworten, ja gemäß den (quanten)physikalischen Erkenntnissen kann nicht einmal die vorausgesetzte Realität des materiellen Seins gehalten werden. Gleichzeitig stößt der Mensch durch seinen großen technischen Erfolg in mehrfacher Hinsicht an die Grenzen seines natürlichen Lebensraumes und damit auch an die Grenzen seines bisherigen Selbst- und Weltverständnisses. Mit anderen Worten, der Mensch befindet sich heute wieder in einer existentiellen Krise seiner evolutionären Entwicklung, vergleichbar durchaus mit den ersten Krisen seiner Entstehung, bei denen ein Scheitern durchaus im Bereich des Möglichen lag.

    Die neuen Probleme des Menschen, diesmal durch seinen großen technisch-kulturellen Erfolg selbst verursacht, bedrohen also wieder einmal existentiell (nicht nur) sein geistiges Sein, seine Psyche, u.a. durch Depressionen. Depressionen haben mit Sicherheit etwas mit der geistig-kulturellen Evolution des Menschen und der Art und Weise des Denkens zu tun, vielleicht sogar direkt mit dem Motor dieser Evolution, aber sie sind in dieser Hinsicht eindeutig eine Fehlfunktion, so etwas wie die durch den aufrechten Gang des Menschen grundsätzlich bedingten Rückenschmerzen, die durch falsche Verhaltensweisen des modernen Lebens noch verstärkt werden. In der nach wie vor heiklen natürlichen Menschwerdung sind Depressionen als aus welchen genauen Gründen auch immer unzureichender, wahrscheinlich oftmals durch angeborene, instinkthafte und emotionale Einflüsse gestörter Vollzug des Motors der neuen, neuronal gegründeten Evolution des Menschen – also des kontemplativen und darin kreativen Denkens. Leider wird dieses Denken selbst in unserer demokratischen Gesellschaft oft nur geschätzt, wenn es direkt zu einer Mehrung unserer materiellen Werte und damit zu mehr Macht, Rang und Reichtum führt, also letztlich wieder den Werten der alten, genetischen Evolution. Das ist ein Hinweis darauf, wo wir uns im Tier-Mensch-Übergangsfeld gerade befinden.
    Wie kann den neuen Krisen begegnet werden? Wieder durch den emotionale Geborgenheit vermittelnden religiösen Glauben an übernatürliche Kräfte und Wesen, oder an die angeborenen alten, emotional so vertrauten Werte der genetischen Evolution, wie besonders im rassistischen Glauben an die Identität, Reinheit und Überlegenheit des eigenen Volkes, die in diesem Glauben genetisch erworben und verankert sind? Nein, im Grunde hilft hier nur die Flucht nach vorn, d.h. sich nicht nur auf das verlassen, was den Menschen exklusiv auszeichnet, sondern das weiter entwickeln – vor allem erst einmal als Erkenntnis und Erklärung dieser geistig-kulturellen Evolution selbst. Das Ideal der geistigen Evolution ist bei Schiller zu finden, obwohl dieser in seiner Antrittsvorlesung als Historiker gemäß den Erkenntnissen seiner Zeit nur die Universalgeschichte thematisierte. Den von ihm darin beschriebenen „philosophischen Kopf” stellte er im krassen Gegensatz zu den von ihm so genannten „Brotgelehrten” mit seinen alten, heute mehr und mehr unangepassten Werten dar, wobei diese alten Werte (damals „Gold, Zeitungslob, Fürstengunst”) nichts anderes als die der alten, animalischen oder genetischen Evolution sind. Und sollte am Ende des idealen geistigen Weges die Erkenntnis stehen, dass auch der Mensch selbst in der von ihm erkannten Welt letztlich, wie alles andere Sein darin, nur eine vergängliche, relative Erscheinung ohne tieferen oder absoluten Sinn ist: Wirkt diese Erkenntnis oder Aussicht depressiv? Kommt darauf an, was man für Ansprüche und Erwartungen hat und wie man damit umgeht.

    Im dichotomen Evolutionsverständnis macht nicht nur nichts in der Biologie, sondern nichts in der gesamten Welt selbst Sinn außer im Licht der Evolution.

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